Musik der Renaissance

Musik der Renaissance
Musik der Renaissance
 
Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts lässt sich nicht problemlos der »Renaissance« zuordnen, wenn man diese wie in den übrigen Künsten als Aufbruch und Wandlung aus dem Geist der Antike versteht. Zwar tritt um 1425 musikgeschichtlich Neues, das auch von den Zeitgenossen als solches empfunden wurde, deutlich in Erscheinung. Aber eine »Wiedergeburt« antiker Formen, Techniken und Stiltendenzen hat es auf musikalischem Gebiet nicht gegeben und nicht geben können, weil der Klang, an den Augenblick gebunden, sich dem rückblickenden Zugriff lange Zeit entzog. Abgesehen von wenigen, in unvollkommener Notenschrift überlieferten Melodien ist die Musik der Griechen und Römer selbst heute nur in Umrissen rekonstruierbar, im 15. Jahrhundert war sie noch ganz unerforscht. Somit gab es keine Vorbilder für eine mögliche Erneuerung, nichts was - vergleichbar dem Tempel, der Statue, dem Epos, dem Drama oder dem Gedicht der Antike - zur Nachahmung bereit gelegen hätte.
 
Auch geographisch gelten für die Musikentwicklung dieser Zeit andere Voraussetzungen als in der Dichtung, Architektur und bildenden Kunst. Fast alle bedeutenden Musiker des 15. Jahrhunderts gehörten zur frankoflämischen Schule, das heißt, sie stammten aus einem Gebiet, das das heutige nordöstliche Frankreich, Belgien und die Niederlande umfasst. Zwar zog es viele dieser Musiker nach Süden, und ihr Schaffen spiegelt die fruchtbare Begegnung zwischen frankoflämischer Kunst und renaissancehaft italienischer Geistigkeit. Dennoch war Italien an der neuen musikalischen Stilentwicklung anfangs eher aufnehmend als initiierend beteiligt.
 
Schließlich war die Musik der Renaissancezeit eigengesetzlichen Entwicklungen der vorangegangenen Jahrhunderte in starkem Maß verpflichtet, und ihr unstreitig Neues ist mit der Musik des späten Mittelalters eng verknüpft. So übernimmt die Musik des 15. Jahrhunderts selbstverständlich das Prinzip der Mehrstimmigkeit, der Polyphonie, wie sie sich, in der Antike noch unbekannt, etwa seit dem 12. Jahrhundert herausgebildet hatte. Sie übernimmt Stimmführungsgesetze, Klangstrukturen und Techniken der Notation, die nicht aus dem Altertum stammen, sondern eine spezifisch mittelalterliche Errungenschaft darstellen. Gattungen, Aufführungsformen und gesellschaftliche Bindungen der Musik behalten teilweise ihre Gültigkeit. Und wo sie sich verändern, decken sie sich nicht unbedingt mit anderen zeittypischen Tendenzen. So gibt es - gegenüber der vorwiegend weltlichen Musik des 14. Jahrhunderts - im 15. Jahrhundert eine verstärkte Hinwendung zum geistlichen Schaffen, was zu den wesentlich säkularen Renaissanceimpulsen italienischer Kunst deutlich kontrastiert.
 
Kann somit der Begriff »Renaissance«« einerseits nicht ohne Einschränkungen auf die Musik übertragen werden, so treffen doch andererseits wesentliche, in diesem Begriff enthaltene Aspekte auch auf sie zu. Denn natürlich gibt es neben den Anknüpfungen an Vorangegangenes deutliche Unterschiede zwischen der Musik des 15. Jahrhunderts und der des späten Mittelalters, sodass mit Recht von einer »Musik der Neuzeit« gesprochen werden kann. Und obwohl der Bezug zur Musik des Altertums fehlt, lässt sich doch in einem allgemeineren geistesgeschichtlichen Sinne die Epochenbezeichnung »Renaissancemusik« aufrechterhalten, und zwar nicht nur in zeitlicher Paralelle zur Kunstgeschichte (als eine »Musik der Renaissancezeit«), sondern im Blick auf bestimmte musikalische Phänomene, die eindeutige Analogien zu Stil und Ausdruckstendenzen anderer Künste zeigen. Klangsinnlichkeit, Sprachnähe, Orientierung der Theorie an der Praxis, Ausrichtung auf den Menschen als hörendes Subjekt und das ausgeprägte Streben nach Autonomie, bezogen sowohl auf den Komponisten als Persönlichkeit als auch auf die Eigenwertigkeit des einzelnen Werkes, rücken die Musik, unabhängig von einer Einbindung in Normen und Vorbilder der Antike, in die Nähe zu renaissancistischen und humanistischen Gehalten der Literatur, der Baukunst, Malerei und Plastik und schaffen die Basis für vielfältige Bezüge zu ihnen, für wechselseitige Einflüsse zwischen den Künsten und für die gleichrangige Teilhabe der Musik am Geist der Zeit.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Besseler, Heinrich: Die Musik des Mittelalters und der Renaissance. Lizenzausgabe Laaber 1979.
 Bowles, Edmund A.: Musikleben im 15. Jahrhundert. Leipzig 21987.
 
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertson und Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.
 
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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